Urkilogramm ade: Welche Folgen hat die Neudefinition auf die Wägetechnik?

  20.05.2019Kategorie Wissen & How-To, Wissenschaft

Das Urkilogramm hat seit dem 20. Mai 2019 ausgedient. Bis dato war gewiss: 100 Zentimeter sind 1 Meter und 1.000 Gramm ergeben 1 Kilogramm. Denn so war es schon immer und so wird es immer sein. Oder etwa doch nicht? Ganz so einfach liegt der Fall auf den zweiten Blick nicht. Das ist spätestens klar, seitdem die ersten Berichte zur Ablösung des Urkilogramms in den Medien auftauchten. Denn, was viele nicht wissen: das Kilogramm ist eine willkürliche gewählte Größe.

Mit der Idee, eine allgemeingültige Maßeinheit zu schaffen, wurde 1889 auf der 1. Generalkonferenz für Maß und Gewicht in Paris das Urkilogramm festgelegt. Seitdem steht in Paris ein wenige Zentimeter großes Metallstück, streng gesichert: Das Urkilogramm.

Seit dem 20. Mai ist diese Maßeinheit nun Geschichte und eine neue Definition für die Einheit Kilogramm tritt in Kraft. Sartorius AG, Hersteller von Laborwaagen und Gewichten, war an dieser neuen Definition aktiv beteiligt. Deshalb nutzt das Unternehmen sein Wissen, um Anwender über mögliche Auswirkungen auf die Arbeit im Labor, insbesondere bei der Verwendung von Waagen und Gewichten, zu informieren.

Denn bis dato sind alle Waagen auf das Urkilogramm kalibriert gewesen. Insbesondere in stark regulierten Bereichen und in zertifizierten und / oder akkreditierten Betrieben und Laboren sehen sich Anwender eventuell mit der Aufgabe konfrontiert, dass sie im Rahmen einer Risikobewertung oder eines Management-Reviews den Einfluss der Neudefinition auf ihre Arbeit bewerten müssen.

Die gute Nachricht für Sie als Anwender: Grundsätzlich wird sich für Nutzer von Waagen und Gewichten zunächst nichts in der täglichen Arbeit ändern. Auch die bestehenden Prozesse müssen nicht angepasst werden. Dies haben Anwender dem Umstand zu verdanken, dass Vertreter aus der Industrie frühzeitig in die Neudefinition einbezogen wurden. Sartorius ist beispielsweise von Anfang an in die Entwicklung einbezogen worden.

Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Gründe und Auswirkungen der Neuerungen.

Urmeter und Urkilogramm

Vermutlich haben Sie die Begriffe “Urmeter” und „Urkilogramm” schon einmal gehört. Bei dem Urmeter handelt es sich um einen Platin-Iridium-Stab von einem Meter Länge. Das Urmeter wurde bereits 1960 als Definition durch die Einheit „Meter“ abgelöst. Das Urkilogramm ist dagegen bis zum Beginn des Jahres 2019 noch immer die Definition der Einheit „Kilogramm“. Ein Kilogramm ist definiert als die Masse dieses „Urkilogramms“, einem Platin-Iridium-Zylinder mit einer Höhe und einem Durchmesser von 39 mm, der vom BIPM (Bureau International des Poids et Mesures) aufbewahrt und in Fachkreisen als IPK (Internationales Prototyp Kilogramm) bezeichnet wird.

Wie kam es zur Neudefinition?

Bereits am 16. November 2018 wurde entschieden, dass diese bestehende Definition mit Wirkung vom 20. Mai 2019 durch eine neue ersetzt wird. Die neue Definition basiert auf der Naturkonstanten h, der Planck-Konstanten. Da gleichzeitig auch die Einheiten „Mol“, „Ampere“ und „Kelvin“ neue Definitionen erhalten, werden dann alle sieben SI-Basiseinheiten (Kilogramm, Meter, Sekunde, Mol, Ampere, Kelvin, Candela) auf der Basis von sieben Naturkonstanten definiert sein.

Es drängt sich die Frage auf, warum die weltweit wichtigste Maßeinheit für Handel, Produktion und Wirtschaft erst jetzt neu definiert wird. Wo doch das Urmeter bereits vor über 50 Jahren durch die Einheit „Meter“ ersetzt wurde. Grund dafür war wohl die technische Umsetzbarkeit, die nicht gegeben war. Nun aber ist es vollbracht und die neue Definition tritt in Kraft. Diese liest sich zunächst recht unspektakulär [1]:

“The kilogram is defined by taking the fixed numerical value of the Planck constant h to be 6.626 070 15 ×10−34 when expressed in the unit J s, which is equal to kg m2 s−1, where the metre and the second are defined in terms of c and ΔνCs.“

Vorteile der neuen Definition

Wenn wir ehrlich sind, ist die intuitive Verständlichkeit dieser Definition deutlich geringer als die bisherige („so viel wie das Urkilogramm”). Dafür hat sie aber durch die Verknüpfung mit der Naturkonstanten den Vorteil, dass sie wesentlich stabiler und zukunftssicherer ist als die bisherige.

Das Urkilogramm ist nämlich über die Jahre geschrumpft. Konkret hat das IPK in den letzten 100 Jahren etwa 50 μg an Masse verloren. Dies geht aus Vergleichsmessungen mit anderen Prototypen hervor [2]. Da das Urkilogramm aber per Definition ganz genau 1 kg wiegt, haben streng genommen alle anderen Massen in diesem Zeitraum um 50 μg pro 1 kg zugenommen. Das mag zwar wenig erscheinen, ist aber in unserer heutigen hochtechnologischen Welt ein untragbarer Zustand.

Durch die neue Definition kann jedes Experiment, das Masse und eine der Naturkonstanten verknüpft, zur Realisierung benutzt werden. Es kommt dann „nur noch“ darauf an, dass solche Experimente ohne systematische Fehler durchgeführt und Messunsicherheiten angemessen bestimmt werden. Aktuell existieren zwei unterschiedliche Experimente, die dies erfüllen: das sogenannte Avogadro-Experiment („die Silizium-Kugel“) und die Kibble-Waage (auch Planck- oder Watt-Waage genannt). Oftmals werden diese beiden Experimente als miteinander konkurrierend dargestellt. Es war jedoch vielmehr eine der Voraussetzungen für die Neudefinition, dass zwei unterschiedliche Experimente vergleichbare Ergebnisse liefern. Es sind demnach beide Experimente nötig.

Die beiden folgenden Abschnitte sollen einen ganz kurzen Überblick über diese beiden Arten der Realisierung geben -wesentlich fundiertere Erklärungen und weitere Details finden sich z.B. in [3].

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    Das Avogadro-Experiment

    Kernstück des Avogadro-Experiments ist eine Kugel aus isotopenreinem 28Si, die oftmals fälschlicherweise als neues Urkilogramm bezeichnet wird. Richtig ist vielmehr, dass eine solche Kugel eine Verbindung zwischen ihrer Masse und der Naturkonstanten h ermöglicht:

    Multipliziert man die Masse eines einzelnen 28Si-Atoms, m28Si, mit der Anzahl der Atome in einer isotopenreinen Kugel aus demselben Material, n28Si, so erhält man die Masse der Kugel, mKugel. Die Masse eines einzelnen Atoms wiederum ist die Masse eines Mols dieser Substanz, M28Si, geteilt durch die Anzahl der Atome in einem Mol, die Avogadro-Konstante NA, und die Anzahl der Atome in der Kugel ist das Volumen der Kugel, VKugel, geteilt durch das Volumen eines einzelnen Atoms, V28Si.

    Da weiterhin gilt:

    Mu: molare Massenkonstante;

    c: Lichtgeschwindigkeit;

    α: Feinstrukturkonstante;

    Are: relative atomare Masse des Elektrons;

    R: Rydberg-Konstante,

    lässt sich folgender Zusammenhang zwischen der Masse der Kugel, mKugel, und der Planck-Konstanten h herstellen:

    Das Praktische an dieser Gleichung ist, dass auf der rechten Seite, abgesehen von dem Volumen der Kugel (VKugel), nur sehr genau bekannte Größen stehen. Wenn man dieses Volumen nun sehr genau bestimmt, kann man die Masse der Kugel absolut berechnen. Übrigens stamm genau daher die Festlegung auf eine Kugelform. Für diese ist das Volumen nämlich am genauesten zu bestimmen. Das mag zunächst nicht sehr aufregend klingen, ist aber in Wahrheit eine bahnbrechende Neuheit, da Massen bisher immer nur relativ zu einer anderen bestimmt werden konnten. Und nun ist eine Absolut-Bestimmung möglich.

    Abbildung 1: Zwei Kopien einer Silizium-Kugel in einem speziell dafür ausgelegten Massekomparator der Firma Sartorius. Quelle: Sartorius

    Die Kibble-Waage

    Die sogenannte Kibble-Waage (oftmals auch als Planck- oder Watt-Waage bezeichnet) stellt eine weitere Realisierung der Masse, basierend auf der Planck-Konstanten, dar.. Es ist dem Prinzip vieler moderner elektronischer Waagen nicht unähnlich, die mit einer sogenannten elektromagnetischen Kraftkompensation funktionieren. Zunächst wird dafür der Strom I durch eine Spule der Länge L gemessen, der nötig ist um durch die elektromagnetische Kraft auf die Spule in einem Magnetfeld B gerade die Gewichtskraft der zu bestimmenden Masse m zu kompensieren:

    In einem zweiten Schritt wird dieselbe Spule mit der Geschwindigkeit v durch das Magnetfeld bewegt und die dadurch induzierte Spannung U gemessen.

    Da für diese dann gilt:

    können die Gleichungen (3) und (4) nach B∙L umgeformt und gleichgesetzt werden, so dass gerade diese beiden Größen B und L, die nur schwer genau zu bestimmen sind, aus der Gleichung verschwinden:

    Die Spannung U lässt sich dabei als n-faches einer sogenannten Josephson-Spannung UJ = fJ∙h/2e messen, wobei fJ eine sehr genau einstellbare Mikrowellenfrequenz ist, e die Elementarladung eines Elektrons und h wieder die Planck-Konstante. Und der Widerstand R in Gleichung (5) lässt sich als ganzzahliger Bruchteil der von Klitzing-Konstante RK=h/e2 und somit ebenfalls in Abhängigkeit von den Naturkonstanten e und h darstellen. Damit kann Gleichung (5) umgeformt werden zu:

    Somit stellt die Kibble-Waage, wie die Siliziumkugel im Avogadro-Experiment, einen Zusammenhang zwischen Masse und der Planck-Konstanten h her, der eine absolute Bestimmung der Masse ermöglicht.

    Welche Auswirkungen hat die Abschaffung des Urkilogramms auf die Wägetechnik?

    Laborwaagen

    Alle Waagen von Sartorius werden im Rahmen der Produktion justiert und mehrfach geprüft. Waagen für den gesetzlichen Verkehr werden darüber hinaus gegebenenfalls konformitätsbewertet. Dies geschieht mit Gewichten, die regelmäßig im hauseigenen Kalibrierlabor für Masse kalibriert werden. Das Labor ist von der DAkkS (Deutsche Akkreditierungsstelle) akkreditiert. Alle Gewichte sind somit rückführbar auf das nationale Normal. Durch den „nahtlosen“ (also ohne Sprung der Werte) Übergang bei der Neudefinition des Kilogramms wird sich hier keine Änderung ergeben.

    Irgendwann, wenn das erste Bezugsnormal des Kalibrierlabors für Masse nach dem 20.05.2019 rekalibriert werden muss, wird diese Rekalibrierung bei der PTB formal mit einer Rückführung auf ein Normal gemäß der neuen Definition erfolgen. Wenn dann das nächste Mal ein Produktionsgewicht rekalibriert wird, wird auch dieses formal auf die neue Definition rückführbar sein.

    Beim Neukauf einer Waage ist es also unerheblich, ob die Waage vor oder nach der Abschaffung des Urkilogramms produziert (bzw. justiert / geprüft / konformitätsbewertet) wurde, da eine lückenlose und durchgehende Rückführbarkeit der eingesetzten Gewichte gegeben ist.  Und die „Richtigkeit“ eines Gewichtes oder einer Waage ändert sich ja durch die Neudefinition nicht. Es ist somit keinesfalls nötig, mit dem Kauf einer Waage zu warten, „damit sie dann schon mit der neuen Definition des Kilogramms konform ist“.

    Abbildung 2: Cubis® MSA individuell Analysenwaagen mit Q-App Software. Quelle: Sartorius

    Und auch bei vorhandenen Waagen wird sich durch die Neudefinition des Kilogramms nichts ändern. Unabhängig davon, dass die regelmäßige Kalibrierung Ihrer Waagen empfehlenswert ist, müssen Sie aufgrund der Neudefinition keine zusätzliche Rekalibrierung vornehmen lassen.

    Gewichte

    Bei Gewichten verhält es sich ganz ähnlich. Auch hier wird sich durch die Neudefinition des Kilogramms nichts ändern. Es wird weder ein vorhandener Kalibrierschein durch die Neudefinition „ungültig“, noch das Gewicht selber. Um hier jedem Irrglauben vorzubeugen: Gewichte für den Endanwender werden auch in Zukunft zylinder- oder knopfförmig sein und nicht kugelförmig.

    Vorhandene Gewichte können also weiterhin für Prüf- und Qualitätssicherungszwecke eingesetzt werden. Egal, ob sie kalibriert sind oder nicht. Allerdings sind kalibrierte Gewichte definitiv empfehlenswert.

    Und ähnlich wie bei den Waagen ist es auch bei einem beabsichtigten Neukauf eines Gewichtes nicht nötig, diesen auf nach dem 20.05.2019 zu verschieben.

    Abbildung 3: Knopfgewichte der Klasse E2 aus der Serie „ProofLine“ von Sartorius. Quelle: Sartorius

    Waagen-Kalibrierungen

    Sartorius betreibt auch in anderen Ländern akkreditierte Kalibrierlabore für Waagen. Zur Kalibrierung der Waagen werden dabei typischerweise Gewichte eingesetzt, die vorher in einem Sartorius Kalibrierlabor für Masse kalibriert wurden. Somit gilt hier das Gleiche wie im vorigen Abschnitt – da für Waagen noch ein weiterer Zwischenschritt in der Rückführungskette hinzukommt, wird es lediglich für Waagen noch etwas länger dauern, bis der Endkunde zum ersten Mal eine Waagenkalibrierung bekommt, die formal auf eine Primär-Realisierung nach der neuen Definition rückführbar ist. Merken wird der Kunde das aber auch bei Waagen nicht.

    Fazit

    Das Urkilogramm hat eine sehr lange Zeit gute Dienste geleistet, doch durch die Ablösung ergeben sich in der Wägetechnik keinerlei Nachteile. Auch wenn die Neudefinition des Kilogramms auf Basis der Planck-Konstanten h einen echten Paradigmenwechsel bedeutet und einen Meilenstein im Bestreben nach zukunftssicheren, stabilen und für immer gültigen Definitionen der Einheiten darstellt, wird sich für den Endkunden dadurch zunächst definitiv nichts ändern. Außerplanmäßige Neuanschaffungen und / oder Rekalibrierungen von Waagen oder Gewichten aufgrund der neuen Definition sind ebenso wenig notwendig, wie ein Aufschub einer Neuanschaffung eines Gewichts oder einer Waage.

    Durch sorgfältige Überlegungen im Vorfeld der Neudefinition, unter anderem mit Einbeziehung von Sartorius Experten, ist sichergestellt, dass sich durch die Neudefinition weder ein „Versatz“ von zum Beispiel Wägewerten ergibt, noch dass sich Unsicherheiten hierdurch vergrößern.

    Quellen und Referenzen

    1. Resolutions of the 26th General Conference on Weights and Measures(CGPM), 13.-16. November 2018, Versailles, France.
    2. M. Stock, P. Barat, R. S. Davis, A. Picard und M. J. Milton, Metrologia 2015,52(2), 310.
    3. H. Bettin, S. Schlamminger (Guest Editors): Focus on Realization,Maintenance and Dissemination of the Kilogram, Metrologia 2016, 53.
    4. Sartorius Lab Instruments GmbH & Co. KG & Sartorius UK Ltd, www.sartorius.com, Dr. Julian Haller, Karlheinz Banholzer, Thomas Fehling, Tony Kowalski
    5. n-tv Wissen

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